Nils Röller
Die Revolution des Ohrs
„Bitte, bitte nie zu sagen, das ist langweilig, das kenne ich schon. Das ist die grösste Katastrophe! Immer wieder sagen, ich habe keine Ahnung, ich möchte das nocheinmal erleben“. 26 mal werden diese Sätze Heinz von Försters auf dem letzten knapp acht-minütigen Track der CD „totes rennen“ von Thomas Brinkmann wiederholt und jedes Mal klingen die Sätze aufgrund einfacher rhythmischer Verschiebungen anders. Ein Rhythmus, der im Hintergrund vom wiederkehrenden Geräusch einer knackenden Plattennadel gebildet wird, überlappt irritierend den Rhythmus der Redeweise von Foersters. Beide Rhythmen bilden Muster, die sich zeitweilig decken und dann wieder fugenhaft gegeneinander arbeiten, so dass die Hörer zwar identische akustische Impulse aufnehmen, aber variierende rhythmische Muster wahrnehmen. Der Musiker Thomas Brinkmann spielt mit dem Titel „totes rennen“ auf die Tradition der musikalischen Experimente an, die ehemalige Mitglieder der Wiener Gruppe als „selten gehörte Musik“ deklarierten. Mit seiner CD stellt Brinkmann eine Schnittmenge zwischen dem dance-floor und den programmatischen Kämpfen einer Ästhetik her, die sich explizit mit dem Verhältnis zwischen Denken, Hören und maschineller Steuerung beschäftigt hat. Dabei nutzte Brinkmann ausgiebig die CD „You Can’t Judge a Book by it’s Cover“, in der Hans Peter Kuhn und Hanns Zischler Orginaltonaufnahmen von Autoren des Merve-Verlages zu einem Hörstück arrangiert haben. Ihr entnimmt Brinkmann die Stimmen Böhringers, Foucaults und von Försters. Die Wahl der von Brinkmann gesampelten Autoren hat einen programmatischen Aspekt: die epistemischen Aufmerksamkeit für die Relevanz von Maschinen in schöpferischen Prozessen. Überspitzt wird dies im ersten Track von Blixa Bargeld als Begehren artikuliert: „Ich will eine Maschine werden“. Charles Olson, ein Theoretiker der Beat-Generation formulierte da noch vorsichtiger und sprach von der „ironischen“ Unterstützung der Maschine beim Dichten.
Die für weite Felder der Wissenschafts- und Kulturgeschichte geltende Tendenz menschliche Handlungen und Dispositionen als Effekte technischer Entwicklungen zu interpretieren, wird in der Poetik der Beat Generation und ihres Ahnen Ezra Pound akzentuiert. In dieser Theorie der Dichtkunst wird die epistemische Aufmerksamkeit begleitet von einer Neubewertung des Ohrs als Wahrnehmungsorgan für die Zeit gegenüber dem Auge als Wahrnehmungsorgan für den Raum. Prekär ist, dass die Wiederentdeckung der physiologischen Taktgeber Herz und Atem parallel zu einer Formalisierung der menschlichen Bewusstseinsacte erfolgt.
Wenige Jahre, bevor Olson als Theoretiker der Beat Generation Ohren und Herzschlag als Chancen der Ensubjektivierung, propagiert, werden in der Mathematik „Bewusstseinsacte“ formalisiert und als Zustände von Maschinen definiert. Bei diesem Vorgang der Formalisierung der internen Zustände des „Egos“ dient die Schreibmaschine nicht als Werkzeug, sondern als Erkenntnisform. Der britische Mathematiker legt 1936/37 einen Beweis vor, dass bestimmte Zahlen exakt definiert, aber nicht berechnet werden können. Sein Text widerlegt, dass die moderne Mathematik auf einen sicheren Bestand von Axiomen zurückgeführt werden kann. Turing gelingt der Beweis, indem er formal eine Maschine entwickelt. Sein Formalismus verschärft eine Einsicht des deutschen Physikers von Helmholtz. 1887 verknüpfte dieser den Ursprung der natürlichen Zahlen mit der zeitlichen Wahrnehmung: „Das Zählen ist ein Verfahren, welches darauf beruht, dass wir uns im Stande finden, die Reihenfolge, in der Bewusstseinsacte zeitlich nach einander eingetreten sind, im Gedächtnis zu behalten“. Turing präzisiert das formal, indem er nicht mehr von Bewusstseinsacten, sondern von Zuständen und Tabellen einer erweiterten Schreibmaschine spricht. Er bedient sich des Begriffs der Maschine also in einer Weise, dass er Aussagen über psychische Prozesse treffen oder besser kritisieren kann. Damit nutzt er die Maschine als eine Erkenntnisform, und nicht als Schreibinstrument oder Form der Energiewandlung. Turing soll die entscheidende Idee entwickelt haben, als er sich im Gras vom Laufen erholte und dabei die Möglichkeit entdeckte, einen Wunsch aus der Kindheit, nämlich Schreibmaschinen zu erfinden, mit einem Forschungsproblem der reinen Mathematik zu verbinden.
Die Turing-Maschine avanciert in den fünfziger Jahren wie die von-Neumann-Architektur und der Begriff der Kybernetik zum Konzept der Computerwissenschaften. Sie bilden für die Wiener Gruppe eine Chance zur Abgrenzung von bestehenden poetischen Tendenzen. Während die „jungen amerikanischen Lyriker“ der Beat Generation den Moloch der „Gesinnungsmaschinerie“ und der technisierten Konsumindustrie poetisch konfrontieren, setzt in Wien eine Gruppe von Dichtern auf die Aneignung der durch die Computerisierung induzierten Denkweisen: „wenn wir anderen uns im gegensatz dazu als sprachingenieur, sprachpragmatiker sahen, benutzen wir die worte im sinne wittgensteins als werkzeuge (allerdings in erweiterter bedeutung) und waren nicht nur am verhalten der worte in bestimmten sprachsituationen (‚konstellationen’) interessiert (was das im naturwissenschaftlichen sinne experimentelle an unseren versuchen ausmachte), sondern auch an der steuerung konkreter situationen durch den sprachgebrauch“, so der Schriftsteller und poeta doctus der Gruppe Oswald Wiener.
Nach Auflösung der sogenannten Wiener Gruppe, veröffentlichte er den Roman „verbesserung von mitteleuropa“ und studierte dann Mathematik und Computerwissenschaften, um herauszufinden, wie „er eigentlich tickt“. Ist sein dichterisches Gehirn ein Rechenzentrum, das gezielt Lyrik produzieren kann oder beginnt Dichtung dort, wo die Rechenkunst aufhört? Bei dem Versuch diese Frage zu beantworten, benutzt er den Begriff der Turing-Maschine. Ausführlich beschreibt Wiener die dabei gewonnenen Elemente in den „Materialien zu meinem Buch Vorstellungen“. Beginnend beim Begriff des Zeichens entwickelt er ein Verständnis von Struktur und Modell und folgert, dass Vorstellungen und Wahrnehmungen von einem gemeinsamen Modell „gesteuert“ werden. Das Modell arbeitet mit einer speziellen Ökonomie, die eine stete Orientierung in der Umgebung gewährleistet. Es verfügt nur über endliche Ressourcen. So muss es die Fülle von Wahrnehmungsdaten reduzieren und mit einem endlichen Vorrat an internen Zuständen in Beziehung setzen. Der menschliche Organismus ist ein Sonderfall der Automatentheorie, da er durch Endlichkeit begrenzt ist. Das menschliche Gehirn gleicht diese Beschränktheit durch die Faltung von gewohnten Wahrnehmungsvorgängen aus.
Wiener führt das in dem Aufsatz „‚Klischee’ als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität“ aus: „Als musikalisch empfundene Tonabfolgen sind offensichtliche Beispiele für Zeichenketten, die unbewusst erworbene oder unbewusst gewordenen Schemata ‚nähren’... Dass in psychologischer Betrachtung den Anfangs- und Endzuständen eines Schemas besondere Bedeutung zukommt (ein elementarer Gesichtspunkt in der Automatentheorie), und dass ein laufendes Schema seiner Stillegung Widerstände entgegensetzt, solange ein terminaler Zustand noch nicht erreicht ist, lässt sich auf vielerlei Weisen illustrieren“.
Hier setzt der eingangs beschriebene Track Brinkmanns an. Der Musiker lässt zwei rhytmische Schemata in einer Weise aufeinander treffen, dass die Erwartungshaltung der Hörer stets enttäuscht werden. Zwar sind die einzelnen Klangmuster klar unterscheidbar, ihre Relation zueinander beim blossen Hören aber nicht vorhersagbar. Das erweckt die ästhetische Neugier, weiter zuhören zu wollen, um das Gesetz der rhythmischen Verschiebung zu erkennen. So lässt Brinkmann Wieners ästhetische Theorie hörbar werden und setzt zugleich von Försters Plädoyer für die Neugierde akustisch ins Werk, und zwar so dass es als kritische Auseinandersetzung mit dem Diktum „Ich will eine Maschine werden“, verstanden werden kann.
Voreilig wäre es, Wieners epistemische Nutzung der Maschine als Indiz dafür zu nehmen, dass sich das epistemische Verhältnis zu Maschinen durchgesetzt habe. Nachwievor hält sich die Auffassung von Maschinen als Mittel und Werkzeug. So lässt sich Olsons Verwendung der Schreibmaschine charakterisieren, aber auch die Position des Elektro-Pop-Musiker Jan St. Werner, die dieser im Gespräch mit Oswald Wiener formuliert. Werner spricht von Computer und digitalem Mischpult als Instrumenten, die einen Aufbruch in vage umrissene Gebiete ermöglichen, und zwar in die Eigenwelt verzerrter Klänge. Wiener hingegen drängt auf Vollendung des Projekts des Rationalismus, den Menschen als Maschine aufzufassen und betrachtet Maschinen als Chance, das Selbstverständnis als Mensch und Künstler zu definieren. Diese Divergenz verdeutlicht, dass sich Maschinen ambivalent gebrauchen lassen: als Werkzeuge und als Erkenntnisformen.
Der von Brinkmann rhythmisierte Heinz von Foerster skizziert einen produktiven Umgang mit dieser Ambivalenz. In Anlehnung an die Computerwissenschaften unterscheidet er zwischen trivialen und nicht-trivialen Maschinen. Triviale Maschinen geben auf einen Input einen Output, bei nicht-trivialen Maschinen ist diese Relation nicht vorhersehbar. Formale Methoden sind Versuche, Phänomene zu trivialisieren, d.h. ihr Verhalten berechenbar und vorhersagbar zu gestalten. Das von Förster vertretene Projekt der dialogischen Philosophie ist ein Projekt der Ent-Trivialisierung. Es geht davon aus, dass die Aussenwelt, die Kommunikation mit anderen Menschen und Maschinen Reize anbieten, die nicht trivial verarbeitet werden können, aber irrtümlich als Produkte trivialer Maschinen behandelt werden. Diese Detrivialisierung des Anderen, lässt sich dialogisch mit der Trivialisierung des Selbst koppeln. Trivialisierung des Selbst kann verstanden werden als Entdeckung von Mustern und Schablonen des Wahrnehmens und Handelns, d.h. der Aufassung des Selbst als Maschine.
Einer absoluten emphatischen Detrivialsierung, also Maschinisierung des Selbst erteilt Brinkmanns „totes Rennen“ eine Absage. Sein „totes Rennen“ oszilliert im letzten Track zwischen Trivialisierung und Detrivialisierung. Brinkmann nutzt so die Eleganz redundanter Muster, um ein dialogisches Verhältnis des Menschen zu seinen Maschinen akustisch ins Werk zu setzen. Das irritiert Herz und Kopf, Atem und Ohr gleichermassen.
Dr. Nils Röller
Studienbereich Neue Medien
Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich
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